Wo steht die Kunst heute in einer Welt, die von digitalen Bildern gesättigt ist?
Der biennale Kunstmarkt mit seinen Messen, Auktionen und Institutionen ist eine mögliche Antwort. Eine andere könnte der virtuell-algorithmische Raum sein, in dem bereits Millionen von IllustratorInnen, FotografInnen, MalerInnen, DesignerInnen, Models, GrafikdesignerInnen, TätowiererInnen, NagelkünstlerInnen, MaskenbildnerInnen, BühnenbildnerInnen und Street Artists tätig sind. Aber sind all diese Produkte, Objekte und Bilder wirklich Kunst oder nur Symbole[1]?
Heute ist das Etikett Kunst zu einer Kunst ohne Großbuchstaben geworden, zu einem verwirrenden Konglomerat, einem Rhizom ohne Zentrum, einem flüssigen Gebilde, das mit seinen geheimnisvollen Strömen, Ursachen und Sedimenten überläuft und überschwappt. In der Vergangenheit war die Kunst durch das Medium unterteilt, mit definierten Grenzen und Praktiken, ein Modell zur Kategorisierung der Kunst, das im 19. und 20. Im Gegensatz dazu ist die Kunst im virtuellen Raum zu einer totalen Einheit geworden, zu einem Ort, an dem die zeitgenössische Kultur entsteht.
Diese Dimension der Gesamtkunst hat die Körper durchdrungen; Beuys[2] Idee hat sich bewusst oder unbewusst verwirklicht – jeder Mensch ist SchöpferIn/KünstlerIn. Dies ist auf die Entwicklung von zwei Technologien zurückzuführen: die Produktion von technischen Bildern (Flusser[3]) und die Telekommunikation (Manovich ). Flusser zufolge hat sich die Welt in Partikel verwandelt, die für das menschliche Auge nicht mehr wahrnehmbar sind. Die Erfahrung ist auf diese Teilchen reduziert worden. Um Zugang zu dieser neuen Informationsfülle zu erhalten, muss sie durch einen technischen „Apparat“ enthüllt werden. So wie Silbernitrat ein Bild auf lichtempfindlichem Papier enthüllt, sind verschiedene Systeme erforderlich, die alle Partikel zusammenfügen, um die notwendigen Modelle zu erstellen.
Das Universum der Teilchen ist wiederum übertragbar dank der Entwicklung von Werkzeugen, die die räumlich-zeitliche Verschiebung dieser Teilchen von einem Ort zum anderen durch die Übertragung von Wellen, Magnetfeldern und Photonen ermöglichen. Die Übertragung von Teilchen und die Fähigkeit, sie in Bilder, Töne und Texte umzuwandeln, ist dank der Entwicklung verschiedener digitaler Medien möglich, die uns heute zur Verfügung stehen.
Wenn wir die Geschichte der Medien Revue passieren lassen, stoßen wir auf die Fotografie. Endlich war es möglich, genaue Bilder zu erzeugen, ohne dass man einen geschickten Künstler oder eine Künstlerin brauchte, indem man diese Schritte befolgte: eine Kamera mit lichtempfindlichem Papier bestücken und das Bild durch eine chemische Reaktion in einer Dunkelkammer entwickeln. Ein Zeitsprung von 100 Jahren bis zur Erfindung des Videos. Mit Hilfe eines Punktes, der sich mit einer bestimmten Geschwindigkeit vor einem Bildschirm bewegt, können elektronische Bilder erzeugt werden. Um dieses Bild zu erzeugen, müssen drei Bedingungen erfüllt sein: Schaltkreise mit Fotosensoren, die Licht in elektrische Impulse umwandeln können, ein Magnetband, das diese elektrischen Schwingungen aufnimmt und weiterleitet, und ein Schaltkreis, der die Umwandlung der elektrischen Impulse in Lichtwellen durch eine Vakuumröhre ermöglicht.
In jüngerer Zeit wurden diese Mittel der Bildproduktion (Foto-, Video- und maschinengestützte Bilder) zusammen mit anderen Werkzeugen zu einem einzigen Gerät – dem Digitalcomputer – verschmolzen, das praktisch alle anderen Geräte enthalten kann. Das „Makrogerät“ GesamtkunstWerkzeug verdichtet Wissen aus Optik, Mathematik, Physik und Informatik zu etwas Einzigartigem.
Der Computer wurde erstmals von Ramon Lull im 12. Jahrhundert in seinem Buch Ars generalis ultima[4] erdacht. Lull schlug die Schaffung eines maschinenähnlichen Geräts vor, das in der Lage sein sollte, durch die Kombination der einzelnen Teile kulturübergreifende Formen der religiösen Hingabe zu vereinen, um die heiligen Kriege zwischen Christen und Muslimen zu beenden. Auch wenn Lulls Ideen die Kreuzzüge nicht beendeten, fanden sie doch Eingang in den modernen Computer und eröffneten Möglichkeiten für neue Utopien, den Aufbau von Welten, die Schaffung neuer Disziplinen und die gemeinsame Nutzung von Wissen, während sie schließlich Körper in virtuellen Räumen zusammenbrachten.
Das Nachdenken über diese unendlichen Möglichkeiten, die der Computer heute bietet, stand im Mittelpunkt der Digital Art Residency[5], die vom Jugend- und Kulturprojekt e.V. (JKPeV) [6] in Dresden veranstaltet wurde. Das Projekt begann als offener Aufruf an alle KünstlerInnen, die sich treffen und gemeinsam über die Möglichkeiten, Herausforderungen, Ängste und Unsicherheiten im Zusammenhang mit dem digitalen Informationsfluss und seiner Beziehung zum Computer nachdenken wollten.
Um auf die ursprüngliche Frage zurückzukommen: Wo steht die Kunst in der heutigen Gesellschaft? Genauer gesagt: Wo findet Kunst im digitalen Zeitalter statt, wenn alles automatisiert, vermittelt oder künstlich hergestellt werden kann?
2003 stellte Rick Silva sein Complex Net Art Diagram[7] vor, das den Weg für Ideen der Post-Internet-Kunst ebnete. Dieser Paradigmenwechsel betont die Beziehung zwischen NutzerInnen, Computern, Machtstrukturen und der digitalen Überwachung, die heute unsere Online-Präsenz bestimmt.
Im Gegensatz zu Silva erklärt das Diagramm der Digital Art Residency auf folgende Weise, wo Kunst stattfindet:
PhilosophInnen, die über die digitale Welt nachdenken + ein sicherer Raum zum Experimentieren mit technischen Mitteln + völlig heterogene KünstlerInnen.
Während für Silva Kunst im digitalen Bereich zwischen zwei miteinander kommunizierenden Computern stattfindet, wird Kunst im Rahmen der Digital Art Residency durch komplexe Interaktionen zwischen mehreren Personen und digitalen Netzwerken geschaffen. Mit anderen Worten, die Digital Art Residency betrachtet Kunst als Verschmelzung von digitalen Geräten mit der Gemeinschaft.
Diese Kombination lässt ein Ökosystem entstehen, in dem sich mehrere Perspektiven überlagern, um ein stumpfes Bild zu schaffen, eine kohärente Ungewissheit, die die komplexe Porosität der Gegenwart abtastet. Aufbauend auf der Kunstgeschichte öffnet die Computergeschichte ein vertikales Fenster zu den Komplexitäten des kollaborativen Schaffens, des Teilens und der Emotionen. In diesem Sinne wurden die Ausstellungen EINS UND UNENEDLICHKEIT – DIE DIGITALISIERUNG DES MENSCHLICHEN VERSTANDES und METAMORPHOSIS DES GEISTES konzipiert.
Um dieses Exponat vorzustellen, müssen wir einen Sprung in die Spekulation wagen. Wie erzählt ein koreanischer Wirtschaftswissenschaftler vom Ende der Welt? Wie viele Gespräche und Zuneigungen entstehen aus dem Zusammentreffen? Ist es möglich, die eigene Identität zu verbergen? Wie fühlt sich eine Russisch-Ukrainerin, wenn sie gezwungen ist, ihre Heimat zu verlassen? Lassen sich die politischen Gegensätze in der Welt umkehren? Wenn automatisches Schreiben eine digitale Collage wäre, wie würde sie aussehen?
Diese Fragen tauchten während unserer gemeinsamen Treffen auf. Aus der Verbindung von Ideen wurden Projekte geboren, die wiederum Teil dieser Ausstellung wurden. Jedes Projekt entstand aus dem Dialog, dem Austausch von Erfahrungen und Meinungen und dem Schmieden divergierender Konstellationen von Ansätzen zu verschiedenen Realitäten.
Collective Drawing Experience von Mia-Ann Böhm, Laura Michelle Schubert, Michael Siegmund
Das erste Projekt, das aus diesem Prozess hervorging, war die Collective Drawing Experience. Mia-Ann Böhm, Laura Michelle Schubert und Michael Siegmund trafen sich regelmäßig mit einer digitalen Anwendung namens Magma, die gemeinsames Zeichnen auf einer Online-Leinwand ermöglicht. Böhm, Schubert und Siegmund nutzten Magma als Treffpunkt, an dem Illustrationen als Vorwand für die Gemeinschaftsbildung dienten und die Tür zu komplexen Diskussionen über Autorenschaft, Zugehörigkeit, Produktion und die Bedeutung kollektiver Kreationen öffneten. Das Projekt war ein Raum des Austauschs, in dem Reflexionen über die Unsicherheit unserer Online-Präsenz als das unbewusste Bild hinter dem Bild interpretiert werden.
Als eine Übung zur Befreiung des Unbewussten durch digitale Medien stellt sich die Künstlerin Oleksandra Kulikovska den surrealistischen Automatismus[1] als digitale Collage vor. Ihre Arbeiten bilden eine Art Wirbelwind aus Bildern, die ohne Unterbrechungen aufeinander folgen, wie beschleunigte Gedanken, Eingebungen und Ideenfragmente, welche mit Lichtgeschwindigkeit reisen.
Melting von Oleksandra Kulikovsk 2022
Kulkovskas Fragmente weckten das Interesse von Jakyeong Jeong, die die Idee mit einer Projektion der Apokalypse weiterführt. Die Bilder von Jeong bewegen sich nicht schnell. Stattdessen sind sie geduldig und ruhen in der Beobachtung in einem Akt der zeitlosen Meditation. Jeongs Entdeckung findet zwar in einem fernen Universum statt, doch ihre ständige Präsenz wirkt sich unausweichlich auf das unsere aus.
Belals Someday Soon or Just Happening Today öffnet ein Fenster zu einer alternativen Realität, die durch eine komplexe Auflösung sichtbar wird. Ähnlich wie die Maler des 15. Jahrhunderts und die Fotografen des 19. Jahrhunderts (Aufklärungsformalismus) beschränken die Filmindustrie und Algorithmen die dreidimensionalen Möglichkeiten auf den Realismus. Im Gegensatz dazu nutzt Belal den virtuellen 3D-Raum, um die Illusion der Unendlichkeit zu erzeugen und die Polaritäten der Naturkräfte zu verändern. Seine Arbeiten zeigen Wale in der Luft, untergetauchte Autos und gestaltlose anthropomorphe Figuren, die unerschöpfliche Räume bewohnen. Belal dehnt die Vorstellungskraft aus, indem er aktuelle Realitäten als experimentelle Dis-/Autopien präsentiert und wissenschaftliches Denken unter dem Mikroskop untersucht.
Augusto Gerardi baut auf der Grundlage von Belal eine visuelle Geschichte der Evolution durch künstliche Intelligenz auf, indem er das wikicommons-Bildarchiv nutzt. Indem er einen Wolkenkratzer als Modell verwendet, untergräbt Gerardi auf borgianische Weise[1] die Grundfesten der Enzyklopädie, indem er die Beziehung zwischen Künstlichem und Natürlichem sowie zwischen Subjekten und Objekten in Spannung setzt. In einer Zeit, in der man sich immer mehr auf ausgefeilte enzyklopädische Hilfsmittel verlässt, stellt Gerardi unverfroren in Frage, ob die Wissenschaften überhaupt in der Lage sind, etwas so Komplexes wie die Natur zu definieren und zu klassifizieren.
Der ukrainische Flüchtling und die Performance-Künstlerin Anna Mukhanova öffnet ein Fenster und lässt ihren Geist zu den tiefsten Stimmen ihres Wesens frei. In einer Videoperformance setzt sich Mukhanova mit ihren Gefühlen der Entwurzelung auseinander, die einer ewigen Wanderung gleichen, bei der Sterne mit zerstörten Gebäuden und Bergen zusammenkommen und zu Wüsten, Meeren und Flüssen werden. Mukhanovas Arbeit verkörpert die gegenwärtige Tragödie des Krieges in ihrer Heimatstadt Odessa. Sie erzählt eine Geschichte über das Exil und die damit verbundenen Ängste und Sehnsüchte. Das physische Exil ist dabei nur ein Teil der Geschichte. Das tiefste Exil ist für Mukhanova die Entfremdung der Seele vom Körper.
Hiden Identities: a collective experience of AR wurde als Teil des wachsenden Bewusstseins und der Kritik an den Identitäten und Indizes, die die Gesellschaft bestimmen, entwickelt. Das Projekt basiert auf der Gesichtserkennungstechnologie (Spark Ar) und besteht aus einer Reihe von Masken, die von Geradi, Böhm und Kulikovska gemeinsam entworfen wurden und die komplexen und unterschiedlichen Formen der Überwachung hinterfragen, die die heutige Gesellschaft in algorithmische Tyrannei eintauchen. Eine Maske, die von dem Film Les yeux sans visage[2] inspiriert ist, schwebt im virtuellen Raum und verwandelt die Gesichter der Betrachter in Echtzeit, spiegelt sie aber auch. Die verwandelten Gesichter sind eine Reflexion über die Selbstinszenierung von Bildern und die digitalen Prozesse, die Identität vermitteln.
Diese heterotopische Konstellation von Praktiken sind die emergenten Formen der Gegenwart. Der einzige Ort, der über die ontologischen Kapazitäten verfügt, diese Praktiken zu verstehen, ist der Raum der Kunst. Und die einzige Art und Weise, in der sie beschworen werden können, ist die Konstruktion eines sicheren Raums, in dem sich Unsicherheiten, Traumata und Sehnsüchte materialisieren können. Die Digital Art Residency und die Ausstellungen EINS UND UNENDLICHKEIT: DIE DIGITALISIERUNG DES MENSCHLICHEN VERSTANDES und METAMORPHOSIS DES GEISTES sind das Bestreben von JKPeV, einen sicheren Raum zu schaffen, in dem Kunst und digitale Techniken als Brücke dienen, um die Komplexität jedes Menschen zu verstehen, wobei die Kunst als Werkzeug eingesetzt wird, um diese Komplexität zu vermitteln und sie frei zu teilen.
Links zu den Werken http://www.digital-art-residencies.kultur-centrale.de/artworks-e/
[1]https://www.merriam-webster.com/dictionary/trope [2]https://www.goethe.de/ins/fr/de/kul/dos/beu/22222261.html [3]https://www.upress.umn.edu/book-division/books/into-the-universe-of-technical-images [5]https://archive.org/details/bub_gb_rG_yINh8V1gC/page/n31/mode/2up [6]http://www.digital-art-residencies.kultur-centrale.de/ [7]https://www.jkpev.de/en/ [8]https://anthology.rhizome.org/simple-net-art-diagram [9]https://www.tate.org.uk/art/art-terms/a/automatism [10]https://blogs.commons.georgetown.edu/modernities-working-group/files/2013/07/borges_the-library-of-babel.pdf [11]https://archive.org/details/eyes-without-a-face-1960-restored-720p-hd
Artikel von Augusto Gerardi and Doreen Siegmund
Digital Art Residencies Ausstellung
@Full Moon Gallery
05 February – 05 March 2023
Vernissage | 05 February 2023 | 20:00